Weissbuch "Digitalisierung und Neuer Handel"

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Der chinesische Digitalkonzern Alibaba wird hierzulande oft als Bedrohung aufgrund der Verkürzung der Lieferkette wahrgenommen: Eine Zeit lang war es geübte Praxis, über die B2B-Plattform Waren in China zu beziehen und hierzulande auf Marktplätzen wie Amazon oder eBay zu verkaufen. Andere Anbieter wie wish.com verzichten inzwischen ganz auf diesen Umweg und greifen direkt auf Konsumenten in Europa zu. Die Sendungen stellen mittlerweile einen großen Teil der Einlieferungen im internationalen Paketverkehr dar.

Aber Alibaba ist weit mehr als das, und die Vision des Unternehmens kann als derzeit mutigste und am Weitesten durchdachte Herausforderung des klassischen Handels betrachtet werden. Alibaba ist es gelungen, weitgehend unbemerkt einzelne Prozesse der Handelswertschöpfung wie oben beschrieben zu isolieren, separat zu marktfähigen Lösungen zu entwickeln und wieder in ein Modell zurückzuführen, in dem „New Retail“ nur eine Ausprägung digitaler Disruption der Wertschöpfungskette ist.

Schon im Jahr 2017 hat Alibaba-Gründer Jack Ma die ambitionierte Vision im Brief an die Aktionäre umrissen:

„E-Commerce entwickelt sich rasch zu „New Retail“. Die Grenzen zwischen offline und online Handel verschwindet, indem wir uns darauf konzentrieren, die individuellen Bedürfnisse jedes Kunden zu erfüllen. In China nehmen unsere New Retail-Initiativen Form an als Ausgangspunkt unserer „Five New“-Strategy. Diese besteht aus New Retail, New Finance, New Manufacturing, New Technology und New Energy.”

Am Ende soll die globale Supply Chain neu zusammengesetzt und das Geschäft von großen zu kleineren Unternehmen umgelenkt werden. Diese kleinen Unternehmen erhalten heute schon Kredite in dreistelliger Milliardenhöhe von Alibabas „Ant Financial“-Zweig. Dabei kann Alibaba auf Performance-Scores der von den kleinen Unternehmen erzeugten Waren oder Dienstleistungen zurückgreifen. Diese Performance wiederum können die Kreditnehmer beeinflussen, je besser sie sich in die Daten-Ströme einbinden: Sie können über Alibabas „business-as-a-service“-Cloud detaillierte Informationen über Kundennachfrage erhalten und ihre eigene Wertschöpfung entsprechend anpassen. Alibaba wiederum kann über seine Logistikorganisation Cainiao bzw. die Zustellplattform ele.me die Waren ideal zu den Kunden bringen. 

Händler können an dieser Distribution partizipieren. O2O – Online-to-Offline und umgekehrt heißt das, geht aber über „Multichannel“ oder „Omnichannel“ weit hinaus. Denn der Händler ist nicht nur Pickup-Point, sondern kann auch sein Warenangebot über Alibabas Datendienste besser am Kundenwunsch orientieren. Der Kunde wiederum ist über das ele.me-Ökosystem mit den lokalen Händlern verbunden: Der eine kann über sein Konto lokale Services buchen, der andere diese über das angeschlossene Zustellnetzwerk erbringen und zugleich Direct Marketing treiben.

Aus der klassischen B2C-Supply Chain wird eine C2B-Demand Chain. Was früher mühsam über Category Management gemeinsam von Händlern und Herstellern am Point of Sale optimiert wurde, können die kumulierten Daten aus den Online- und Offline-Systemen filigran simulieren und daraus konkrete Empfehlungen bis hin zur Produktionssteuerung ableiten.

Quelle: Präsentation von Alibaba Group CEO Daniel Zhang auf dem Alibaba Investment Day am 17./18. September 2018 in Hangzhou, Chart 11-12

Inzwischen unterstützt Alibaba beispielsweise lokale Farmer bei der Abwicklung von „Direct to Consumer“-Abonnements. Das Geschäft wird so an den klassischen Distributeuren vorbei geleitet. Andererseits können die lokalen Geschäfte mit den Informationen und Dienstleistungen aus den diversen Sparten so hohe Mehrwert-Leistungen anbieten, dass für die Chinesen die lokale Nähe eines HEMA-Supermarkts einen höheren Mietpreis rechtfertigt.

Es lohnt sich, Alibabas „Business-as-a-Service”-Cloud genauer zu betrachten. Hier fließen alle Daten zusammen und werden mithilfe von starker und schwacher KI zu unterschiedlichsten Zwecken genutzt.

Manufacturing-Services:

Die Dienstleistungen für die herstellende Industrie erbringt der Alibaba als Teil der Alibaba Cloud Services. Im besonderen ist es der KI-Dienst ET Industrial Brain, der in fünf Teilbereichen angreift:

  • Smart Supply Chains verringern das Lager durch präzise Verkaufs-Forecasts und Optimierung der Bestände bis hin zu einer Steuerung der Sendungen zum passenden Versandfahrzeug.
  • Smart R&D prognostiziert die vollständige Wertschöpfungskette der Produkte auf Grundlage der Analyse von Daten, die in Design, Produktion und Aftersales anfallen.
  • Smart Production erstellt Digitale Zwillinge und nutzt KI-Algorithmen, um Optimierungsansätze im Produktionsprozess zu modellieren und auch unter Nutzung von Echtzeit-Daten im Betrieb umzusetzen.
  • Smart Marketing schließlich setzt sowohl bei der Überwachung etwa der Urheberrechte und des Markenbilds an, kann aber auch auf Grundlage von Daten über Branchen und Kunden den Vertrieb unterstützen.

IT-Dienstleistungen

Das ET Industrial Brain steht den Nutzern in der Alibaba Cloud zur Verfügung und kann als isolierter Service auch ohne weitere Einbindung in Alibabas eigenes Wertschöpfungsnetz eingesetzt werden. Insofern ähnelt es den Services, die beispielsweise Amazon im Rahmen von AWS erbringt. Allerdings passen die für „ET Brain“ konzipierten Lösungen exakt zu den weiteren New Retail-Lösungen des Konzerns.

Dazu zählt beispielsweise das ET City Brain, das sich intensiv mit Verkehrsdaten beschäftigt. Dies zum einen im Hinblick auf sicherheitskritische „Events“, aber eben auch zur effizienteren Verkehrsführung. Im Xiaoshan District von Hangzhou, dem Firmensitz von Alibaba, konnte die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit um 15 % durch intelligentere Steuerung der Ampeln gesteigert werden.

Selbstlernende Systeme wie dieses produzieren laufend neue Algorithmen, von denen wiederum andere vernetzte Systeme lernen: auf diese Weise entwickeln sich die Komponenten der Alibaba Cloud exponentiell und können beispielsweise als Teil der Logistics Cloud die Zustellung von Gütern zwischen Hersteller, Handel und Endverbraucher über unterschiedlichste Frachtführer und Fahrzeugklassen optimieren.

New Finance

Auf dem Investors Day 2018 setzte Eric Jing, Executive Chairman und CEO von Alibabas Finanzsparte Ant Financial, den Ton mit der Aussage, dass Technologie der Motor ist, mit dem der Konzern die Finanzdienstleistungen neu erfinden will. Die überlegenen Analysesysteme sollen die Kreditvergabe beschleunigen, dabei die Ausfallrisiken vermindern und Versicherungsprozesse vereinfachen.

Im Risk Management werden beispielsweise Zahlungsmuster mit KI analysiert, aber auch das Verhalten der Kunden – in China wesentlich transparenter als bei uns – hinzugezogen. Die Ausfallrate konnte nahezu auf Null gesenkt werden.

Dadurch entsteht ein komplett neuer Markt: Wer so fein Risiken scoren kann, kann es sich leisten, an Privatpersonen und Unternehmen heranzutreten, die wegen schlechter Bonität in der Regel nicht bedient werden. Selbst wenn dann die Ausfallquote leicht höher ausfällt.

Und genau das passiert gerade. Bis Juli 2019 wurden von der MYBank, an der Ant Financial zu 30 % beteiligt ist, rd. 300 Mrd. US-Dollar an Krediten vergeben. Wie Ant Financial Ende Mai 2020 angab, wurden auf diese Weise fast 21 Mio. kleine und mittlere Unternehmen mit einer durchschnittlichen Kreditsumme von 31.000 RMB, umgerechnet knapp 4000 Euro, finanziert. Die Kredite gingen explizit nicht an Großunternehmen, sondern speziell an solche, die den staatlichen chinesischen Banken als nicht kreditwürdig erschienen - laut Corporate Social Responsibility-Bericht 2020 hatten 80 % der Unternehmen bis dahin noch nie einen Bankenkredit erhalten. In den Score, mit dessen Hilfe das Risiko und die entsprechenden Konditionen berechnet wurden, werden  bis zu 3000 Variablen einbezogen. Bei Ausfallquoten, die angeblich weiterhin unter 1 % liegen. Künftig sollen die Algorithmen auch von anderen Finanzinstituten genutzt werden, um die Zahl der Kreditnehmer bis 2021 zu verdoppeln.

Zugleich verachtfachte sich zwischen 2017 und 2018 die Zahl der Kleinunternehmen, für die Ant Financial das Cash Management begleitet, und 40 Mio. Kleinunternehmer wurden von Alibabas Finanzsparte versichert.

Ant Financial treibt auf der anderen Seite die digitalen Zahlsysteme voran, die etwa in den HEMA Supermärkten zum Einsatz kommen. Die eigene Technologie erkennt biometrische Informationen von mehr als 390 Mio. Nutzern, die mit den Lösungen online und im klassischen Handel auf den unterschiedlichsten digitalen Geräten zahlen. Laut CSR-Report 2019/20 ist die Zahl der Nutzer, die via Alipay-App zahlen und auf die Ausstellung von Belegen verzichten, auf 266 Mio. gestiegen. Das sind gut 44 % aller Alipay-Nutzer.

Aufgrund der Zustimmung der Privatkunden, kann Ant Financial die Zahlungsdaten mit den Informationen zum Merchant (ob Händler oder Direktanbieter) vergleichen. Damit liegen Prognosemodelle vor, aufgrund derer die Kreditwürdigkeit des Unternehmens verändert werden kann. In Echtzeit, und auf deutlich mehr Datenpunkten als sie traditionellen Retail-Banken zur Verfügung stehen.

New Retail

Während hierzulande der Tod der kleinen Händler vorhergesagt wird, setzt Alibaba gezielt auf Nachbarschaftsstores. Allerdings transformiert das Unternehmen die Läden durch die Einbindung in das digitale Datennetz. Die sogenannten „LST Corner Stores“ erhalten Zugang zu demographischen Daten und Informationen über das Einkaufsverhalten der direkten Umgebung. Dadurch können sie ihr Sortiment so anpassen, dass sie die am meisten nachgefragten Waren in ausreichender Menge zur Verfügung haben. LST steht nicht von ungefähr für „integrierter Handel“.

Über die digitale Lösung kann der Händler aber auch sein Sortiment verwalten und gegebenenfalls die Zustellung beauftragen. Dadurch wiederum kann er Aufträge, die Kunden über Alibabas eigene Onlineplattform Tmall erstellen, übernehmen. Aber allein die Abbildung von lokaler Verfügbarkeit auf Tmall führt unmittelbar zu steigender Besucherzahl.

Vergleichbar dieser LST-Initiative existiert in Deutschland am ehesten das Gaxsys-Modell von Zalando, mit dem sich lokale Textilhändler ohne hohen IT-Aufwand mit der Modeplattform verbinden können. Im Sommer 2019 haben zudem der Otto-Konzern und der familiär verbundene Mall-Betreiber ECE eine vergleichbare Initiative gestartet, die im ersten Schritt allerdings nicht die Zustellung, sondern lediglich die Abbildung der lokalen Verfügbarkeit auf otto.de zum Ziel hat.

Durch die Integration der Läden in die digitale Demand-Chain entsteht tatsächlich mehr als das, was hierzulande als „Omnichannel“ betrachtet wird. Die Optimierung der Online- und Offline-Sortimente und die Führung der Kunden erfolgt auf der E-Commerce-Plattform. Läden, die zusätzlich ihre Transaktionsdaten mit den „Credit Facilities“ von Ant Financial verbinden, erhalten unmittelbar Kredite, um ihr Sortiment zu fairen Konditionen entsprechend aufstocken zu können.

New Marketing/New Entertainment

Zwar kann Alibaba über die Nutzerdaten aus Tmall (B2C-Marktplatz) oder Taobao (C2C-Marketplatz) die wertvollen direkt transaktionsbezogenen Informationen gewinnen. Aber damit kann das Unternehmen immer nur den untersten Teil des „Einkaufstrichters“ abbilden. Deshalb wurde schon 2008 mit „Alimama“ ein Ableger gegründet, der Marketingdienstleistungen auch für die „Attention“- und „Interest“-Phasen des AIDA-Modells entwickelt.

Dabei kann Alibaba nicht nur Marketing auf den genannten Plattformen aussteuern, sondern auch auf die vielen Angebote der Entertainment-Sparte zugreifen. Von Spielen über Videos bis zu Online-Communities können Anbieter mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz performance basiert für ihre Waren und Dienstleistungen werben. Große Marken wie L’Oreal setzen in China bereits intensiv auf das Werbenetzwerk.

Gerade im Beauty-Umfeld tritt ein weiterer „Small Business“-Trend zutage: Sogenannte Key Opinion Leader oder „KOL“ können als Micro-Influencer gezielt für den Aufbau von Marken eingesetzt werden. Alimama verknüpft auf einer eigenen Plattform beide Seiten (kol.alimama.com). Die Shows, die die Influencer an beliebiger Stelle produzieren und über die unterschiedlichsten Plattformen – auch außerhalb von Alibabas eigenen Properties – distributieren, führen letztlich zurück in die globalen Verkaufskanäle des Konzerns.

Beispielhaft ist dieser geschlossene Kreislauf im Landwirtschaftssektor zu beobachten. Frische Lebensmittel sind in den chinesischen Millionenstädten ein wichtiges Thema. KOL berichten zum Teil live von den Feldern kleiner Bauernbetriebe. Diese wiederum können über die Plattformen des Konzerns direkt an Endkunden, wie oben beschrieben, Gemüse-Abonnements verkaufen. 

Aber auch Läden können, wie oben beschrieben, Teil der integrierten digitalen Wertschöpfungskette sein.

Quelle: Präsentation von Daniel Zhang, CEO Alibaba Group, auf dem Alibaba Investment Day 2018

Man kann das so entstehende "Alibaba Operating System" als Organisation von Services verstehen, die über ein zentrales Betriebssystem gesteuert und aus einer zentralen Datenbank gefüttert werden. Jeder Service schafft eigene Daten und treibt durch seine Aktivitäten die verknüpften Dienste an, so dass ein "Wheel of Growth" ähnlich der bekannten Servietten-Skizze von Jeff Bezos entsteht - aber eines, das alle Handelsstufen umfasst.

In der Stringenz, mit der die Alibaba Group Handelsaktivitäten, Finanzdienstleistungen, IT-Services, Logistik und Entertainment-Investitionen zusammenführt, sieht man exemplarisch, wie digitale Plattformen das Betriebssystem des Neuen Handels werden.

Joe Tsai, Executive Vice Chairman der Alibaba Group, hat die Logik der Ausgründungen, Investitionen und Akquisitionen des Konzerns auf dem Investment-Day 2018 mit der Kunst des Go-Spiels verglichen. 

In einer Beschreibung des Go-Spiels heißt es: „Jeder gesetzte Stein hat häufig mehrere Funktionen, von der Stärkung einer eigenen Gruppe von Steinen über die Schaffung einer Verbindungsmöglichkeit mit einer zweiten Gruppe bis hin zu einer Attacke auf vom Gegner beherrschtes Territorium.“

Ein neues Aktionsfeld wird stets so angegangen, dass die entstehenden Dienste beliebig mit anderen im Konzern verkettet werden können. Sie sichern so die eigenen „Territorien“, schränken aber – das ist das Prinzip des Go-Spiels – die „Freiheiten“ der anderen Teilnehmer ein.

Quelle: Präsentation von Joe Tsai, Executive Vice Chairman, Alibaba Group, auf dem Alibaba Investment Day 2018, Chart 3

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Alibaba es möglichst vielen Stakeholdern des Handels unmöglich macht, sich ohne die Nutzung mindestens einzelner, idealerweise (für beide Seiten) aber verketteter Angebote des Konzerns erfolgreich im Markt zu bewegen. 

Jeder weitere Nutzer von Alibabas Dienstleistungen erzeugt seinerseits eine Mehrwertleistung in Form von beispielsweise Konsumentendaten, die wiederum jeden verketteten Baustein wertvoller machen. In diesem Sinn hat Alibaba sein Go-Brett im Raum gebogen und damit jeden Spielstein – also jeden wertschöpfenden Service – jederzeit direkt mit jedem anderen Spielstein verbunden.

Quelle: Präsentation von WANG Lei, CEO von ele.me, auf dem Alibaba Investment Day 2018, Chart 9

Vergleicht man die Organisation des Alibaba-Konzerns mit der Matrix, die wir eingangs im Weißbuch Neuer Handel aufgestellt haben, hat er systematisch fast jedes der Felder mit speziellen Lösungen besetzt. Diese werden als synergetisches Konstrukt am Markt angeboten.

Stärker noch als seine globalen und regionalen Wettbewerber (z.B. Tencent, JD.com, Pinduoduo) stellt Alibaba damit einen umfassenden Entwurf integrierter digitaler Handelswertschöpfungsketten dar.

Martin Groß-Albenhausen ist als Stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim E-Commerce-Verband bevh für Marketing, Innovation, Ausbildung und Business-to-Business-Anbieter verantwortlich. Er ist Dozent an der Digital Business School Jena mit Schwerpunkt "Online-Strategie" und berät im bevh Interaktive Händler in Fragen von E-Commerce- und Multichannel-Strategie, Positionierung und Geschäftsmodell-Entwicklung.

Ihr Ansprechpartner

Bild des Stellvertretenden bevh-Hauptgeschäftsführers Martin Groß-Albenhausen

Martin Groß-Albenhausen

Stellvertretender Hauptgeschäftsführer