Inzwischen unterstützt Alibaba beispielsweise lokale Farmer bei der Abwicklung von „Direct to Consumer“-Abonnements. Das Geschäft wird so an den klassischen Distributeuren vorbei geleitet. Andererseits können die lokalen Geschäfte mit den Informationen und Dienstleistungen aus den diversen Sparten so hohe Mehrwert-Leistungen anbieten, dass für die Chinesen die lokale Nähe eines HEMA-Supermarkts einen höheren Mietpreis rechtfertigt.
Es lohnt sich, Alibabas „Business-as-a-Service”-Cloud genauer zu betrachten. Hier fließen alle Daten zusammen und werden mithilfe von starker und schwacher KI zu unterschiedlichsten Zwecken genutzt.
Manufacturing-Services:
Die Dienstleistungen für die herstellende Industrie erbringt der Alibaba als Teil der Alibaba Cloud Services. Im besonderen ist es der KI-Dienst ET Industrial Brain, der in fünf Teilbereichen angreift:
- Smart Supply Chains verringern das Lager durch präzise Verkaufs-Forecasts und Optimierung der Bestände bis hin zu einer Steuerung der Sendungen zum passenden Versandfahrzeug.
- Smart R&D prognostiziert die vollständige Wertschöpfungskette der Produkte auf Grundlage der Analyse von Daten, die in Design, Produktion und Aftersales anfallen.
- Smart Production erstellt Digitale Zwillinge und nutzt KI-Algorithmen, um Optimierungsansätze im Produktionsprozess zu modellieren und auch unter Nutzung von Echtzeit-Daten im Betrieb umzusetzen.
- Smart Marketing schließlich setzt sowohl bei der Überwachung etwa der Urheberrechte und des Markenbilds an, kann aber auch auf Grundlage von Daten über Branchen und Kunden den Vertrieb unterstützen.
IT-Dienstleistungen
Das ET Industrial Brain steht den Nutzern in der Alibaba Cloud zur Verfügung und kann als isolierter Service auch ohne weitere Einbindung in Alibabas eigenes Wertschöpfungsnetz eingesetzt werden. Insofern ähnelt es den Services, die beispielsweise Amazon im Rahmen von AWS erbringt. Allerdings passen die für „ET Brain“ konzipierten Lösungen exakt zu den weiteren New Retail-Lösungen des Konzerns.
Dazu zählt beispielsweise das ET City Brain, das sich intensiv mit Verkehrsdaten beschäftigt. Dies zum einen im Hinblick auf sicherheitskritische „Events“, aber eben auch zur effizienteren Verkehrsführung. Im Xiaoshan District von Hangzhou, dem Firmensitz von Alibaba, konnte die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit um 15 % durch intelligentere Steuerung der Ampeln gesteigert werden.
Selbstlernende Systeme wie dieses produzieren laufend neue Algorithmen, von denen wiederum andere vernetzte Systeme lernen: auf diese Weise entwickeln sich die Komponenten der Alibaba Cloud exponentiell und können beispielsweise als Teil der Logistics Cloud die Zustellung von Gütern zwischen Hersteller, Handel und Endverbraucher über unterschiedlichste Frachtführer und Fahrzeugklassen optimieren.
New Finance
Auf dem Investors Day 2018 setzte Eric Jing, Executive Chairman und CEO von Alibabas Finanzsparte Ant Financial, den Ton mit der Aussage, dass Technologie der Motor ist, mit dem der Konzern die Finanzdienstleistungen neu erfinden will. Die überlegenen Analysesysteme sollen die Kreditvergabe beschleunigen, dabei die Ausfallrisiken vermindern und Versicherungsprozesse vereinfachen.
Im Risk Management werden beispielsweise Zahlungsmuster mit KI analysiert, aber auch das Verhalten der Kunden – in China wesentlich transparenter als bei uns – hinzugezogen. Die Ausfallrate konnte nahezu auf Null gesenkt werden.
Dadurch entsteht ein komplett neuer Markt: Wer so fein Risiken scoren kann, kann es sich leisten, an Privatpersonen und Unternehmen heranzutreten, die wegen schlechter Bonität in der Regel nicht bedient werden. Selbst wenn dann die Ausfallquote leicht höher ausfällt.
Und genau das passiert gerade. Bis Juli 2019 wurden von der MYBank, an der Ant Financial zu 30 % beteiligt ist, rd. 300 Mrd. US-Dollar an Krediten vergeben. Wie Ant Financial Ende Mai 2020 angab, wurden auf diese Weise fast 21 Mio. kleine und mittlere Unternehmen mit einer durchschnittlichen Kreditsumme von 31.000 RMB, umgerechnet knapp 4000 Euro, finanziert. Die Kredite gingen explizit nicht an Großunternehmen, sondern speziell an solche, die den staatlichen chinesischen Banken als nicht kreditwürdig erschienen - laut Corporate Social Responsibility-Bericht 2020 hatten 80 % der Unternehmen bis dahin noch nie einen Bankenkredit erhalten. In den Score, mit dessen Hilfe das Risiko und die entsprechenden Konditionen berechnet wurden, werden bis zu 3000 Variablen einbezogen. Bei Ausfallquoten, die angeblich weiterhin unter 1 % liegen. Künftig sollen die Algorithmen auch von anderen Finanzinstituten genutzt werden, um die Zahl der Kreditnehmer bis 2021 zu verdoppeln.
Zugleich verachtfachte sich zwischen 2017 und 2018 die Zahl der Kleinunternehmen, für die Ant Financial das Cash Management begleitet, und 40 Mio. Kleinunternehmer wurden von Alibabas Finanzsparte versichert.
Ant Financial treibt auf der anderen Seite die digitalen Zahlsysteme voran, die etwa in den HEMA Supermärkten zum Einsatz kommen. Die eigene Technologie erkennt biometrische Informationen von mehr als 390 Mio. Nutzern, die mit den Lösungen online und im klassischen Handel auf den unterschiedlichsten digitalen Geräten zahlen. Laut CSR-Report 2019/20 ist die Zahl der Nutzer, die via Alipay-App zahlen und auf die Ausstellung von Belegen verzichten, auf 266 Mio. gestiegen. Das sind gut 44 % aller Alipay-Nutzer.
Aufgrund der Zustimmung der Privatkunden, kann Ant Financial die Zahlungsdaten mit den Informationen zum Merchant (ob Händler oder Direktanbieter) vergleichen. Damit liegen Prognosemodelle vor, aufgrund derer die Kreditwürdigkeit des Unternehmens verändert werden kann. In Echtzeit, und auf deutlich mehr Datenpunkten als sie traditionellen Retail-Banken zur Verfügung stehen.
New Retail
Während hierzulande der Tod der kleinen Händler vorhergesagt wird, setzt Alibaba gezielt auf Nachbarschaftsstores. Allerdings transformiert das Unternehmen die Läden durch die Einbindung in das digitale Datennetz. Die sogenannten „LST Corner Stores“ erhalten Zugang zu demographischen Daten und Informationen über das Einkaufsverhalten der direkten Umgebung. Dadurch können sie ihr Sortiment so anpassen, dass sie die am meisten nachgefragten Waren in ausreichender Menge zur Verfügung haben. LST steht nicht von ungefähr für „integrierter Handel“.
Über die digitale Lösung kann der Händler aber auch sein Sortiment verwalten und gegebenenfalls die Zustellung beauftragen. Dadurch wiederum kann er Aufträge, die Kunden über Alibabas eigene Onlineplattform Tmall erstellen, übernehmen. Aber allein die Abbildung von lokaler Verfügbarkeit auf Tmall führt unmittelbar zu steigender Besucherzahl.
Vergleichbar dieser LST-Initiative existiert in Deutschland am ehesten das Gaxsys-Modell von Zalando, mit dem sich lokale Textilhändler ohne hohen IT-Aufwand mit der Modeplattform verbinden können. Im Sommer 2019 haben zudem der Otto-Konzern und der familiär verbundene Mall-Betreiber ECE eine vergleichbare Initiative gestartet, die im ersten Schritt allerdings nicht die Zustellung, sondern lediglich die Abbildung der lokalen Verfügbarkeit auf otto.de zum Ziel hat.
Durch die Integration der Läden in die digitale Demand-Chain entsteht tatsächlich mehr als das, was hierzulande als „Omnichannel“ betrachtet wird. Die Optimierung der Online- und Offline-Sortimente und die Führung der Kunden erfolgt auf der E-Commerce-Plattform. Läden, die zusätzlich ihre Transaktionsdaten mit den „Credit Facilities“ von Ant Financial verbinden, erhalten unmittelbar Kredite, um ihr Sortiment zu fairen Konditionen entsprechend aufstocken zu können.
New Marketing/New Entertainment
Zwar kann Alibaba über die Nutzerdaten aus Tmall (B2C-Marktplatz) oder Taobao (C2C-Marketplatz) die wertvollen direkt transaktionsbezogenen Informationen gewinnen. Aber damit kann das Unternehmen immer nur den untersten Teil des „Einkaufstrichters“ abbilden. Deshalb wurde schon 2008 mit „Alimama“ ein Ableger gegründet, der Marketingdienstleistungen auch für die „Attention“- und „Interest“-Phasen des AIDA-Modells entwickelt.
Dabei kann Alibaba nicht nur Marketing auf den genannten Plattformen aussteuern, sondern auch auf die vielen Angebote der Entertainment-Sparte zugreifen. Von Spielen über Videos bis zu Online-Communities können Anbieter mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz performance basiert für ihre Waren und Dienstleistungen werben. Große Marken wie L’Oreal setzen in China bereits intensiv auf das Werbenetzwerk.
Gerade im Beauty-Umfeld tritt ein weiterer „Small Business“-Trend zutage: Sogenannte Key Opinion Leader oder „KOL“ können als Micro-Influencer gezielt für den Aufbau von Marken eingesetzt werden. Alimama verknüpft auf einer eigenen Plattform beide Seiten (kol.alimama.com). Die Shows, die die Influencer an beliebiger Stelle produzieren und über die unterschiedlichsten Plattformen – auch außerhalb von Alibabas eigenen Properties – distributieren, führen letztlich zurück in die globalen Verkaufskanäle des Konzerns.
Beispielhaft ist dieser geschlossene Kreislauf im Landwirtschaftssektor zu beobachten. Frische Lebensmittel sind in den chinesischen Millionenstädten ein wichtiges Thema. KOL berichten zum Teil live von den Feldern kleiner Bauernbetriebe. Diese wiederum können über die Plattformen des Konzerns direkt an Endkunden, wie oben beschrieben, Gemüse-Abonnements verkaufen.
Aber auch Läden können, wie oben beschrieben, Teil der integrierten digitalen Wertschöpfungskette sein.