Vom Nachzügler zum Frontrunner: Bim und die Digitalisierung der Baubranche
Auch Branchen, die noch weit entfernt vom E-Commerce stehen, spüren durch Digitalisierung einen wachsenden Transformationsdruck. Motor der Veränderung ist dabei nicht zwingend die Wirtschaft, sondern – durchaus ungewöhnlich – der öffentliche Sektor. Obwohl Behörden bei der eigenen Digitalisierung weit hinterherhinken, greifen sie regulatorisch der Entwicklung vor und drängen Industriezweige in Richtung digitaler Wertschöpfungsnetze.
In der Bauindustrie existiert noch keine durchgängige transparente Planung und Kontrolle. Gerade der öffentliche Hoch- und Tiefbau hat nicht zuletzt dadurch massiven Schaden erlitten. Eine Lösung verspricht hier das sog. Building Information Modeling (BIM). 2015/2016 erhob der damalige Bundesminister für Bau und Digitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt, BIM zur nationalen Initiative und „Leuchtturmprojekt“ im Rahmen seines „Infrastruktur Upgrade“ für Deutschland. Bis 2020 sollte digitales Planen und Bauen über einen Stufenplan zum Standard bei Infrastrukturprojekten werden.
Product Information Management und Building Information Modeling
Optimierte Vernetzung und weniger Reibungsverluste für alle am Projekt Beteiligten – in kaum einer Branche ist das bis heute möglich. Dem stehen die unterschiedlichen Standards und „Sprachen“ der verschiedenen Wertschöpfungsstufen entgegen. Der Bausektor stand zwar in der zweiten Reihe, aber durch die Nutzung von CAD-Programmen in der Planungsphase (Architekten, Bauzeichner) schon früh im Feld der datengetriebenen Prozessketten. CAD-Programme wie AutoCAD oder Sketchup und ihre Formate gibt es seit fast 40 Jahren. Seitdem können geometrische Formen, Diagramme und auch Text verlustfrei austauschen.
CAD ist aber bis heute wenig mehr als eine Visualisierung von Produkten auf Grundlage von Daten, und damit eine Art umgekehrtes Product Information Management. Hier entsteht das zunächst virtuelle Objekt aus Daten, dort wird das reale Objekt durch Daten virtualisiert. Die Weiterverarbeitung von CAD-Daten bedarf einer Übersetzung in und Ergänzung um gänzlich andere Datenarten.
Erst 25 Jahre nach der Einführung von CAD kam BIM in der Baubranche in Fahrt – allerdings noch weit entfernt von den Möglichkeiten digital vernetzter Plattformen. Building Information Modeling nutzt die dreidimensionalen Daten aus dem CAD und addiert die für die Bauplanung und Bauphase relevanten Daten z.B. der Energieversorgung, Stromleitungen, Wasserver- und entsorgung etc.
Hier wird es spannend, denn auf einer BIM-Plattform (sic!) werden die Design-Daten mit virtuellen Beschreibungen realer Produkte verheiratet. Letztere müssen dabei neben ihren rein physischen Eigenschaften, die man häufig im Onlinehandel schon findet, aber auch beispielsweise Zertifikate mitliefern, um für den Eintrag von spezifischen Lasten geeignet zu sein. Ebenso Isolationswerte und so weiter.
Neben solchen Daten werden auch Leistungswerte in einer gemeinsamen Sprache verarbeitet, die bis hin zum Verputzens einer Wand mit einer spezifischen Substanz in einer vorgegebenen Stärke reichen können. In BIM-Modellen wird zudem jedes Produkt nicht nur gelistet, sondern auch mit den dreidimensionalen Koordinaten verheiratet, also dem Einsatzort.
Derzeit wird erarbeitet, wie Leistungen nach Baustellenverordnung in den BIM-Prozess integriert werden können. Damit kann die Bauphase bis hin zum präventiven Arbeitsschutz dokumentiert und kontrolliert werden. In der Praxis heißt dass, das z.B. Absturzsicherungen im Plan eingetragen und für die Bereitstellung vorgesehen werden können. Nicht nur in der Bauphase, sondern auch im Betrieb, etwa bei Reparaturen. Einmal korrekt hinterlegt und dokumentiert, kann die Leistung bestellt werden.
Daten-getriebene Wertschöpfung im BIM-Prozess. Quelle: Eigene Grafik
Die obige Grafik zeigt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Daten und Dokumente im BIM verwendet werden. Die folgende Liste ist nicht abschließend, stellt lediglich die Bandbreite an Informationen dar, die im BIM-Prozess verarbeitet werden müssen.
Zeichnungen
CAD-Daten
Spezifikationen
Gesetze/Verordnungen
Rechte
Material
Maße und Gewichte
Berechnungen/Simulationen
Life Cycle Daten
Verträge
Preise
Produkte
Konditionen
Angebote/RFQ
Kontrakte
Logistikdaten/Koordinaten
Lieferdaten/Zeiten
Vom Datenmodell zur Commerce-Plattform
BIM hat durch die akribische Dokumentation einen „erzieherischen“ Effekt: Vom Reißbrett an werden alle Informationen deutlich reicher und detaillierter angelegt als früher. Das engt den Spielraum für alle Wertschöpfungspartner deutlich ein und führt gewissermaßen zu einem Datenwettlauf hin zur Quelle. Denn wenn ein Hersteller seine Produkte mit eindeutigen BIM-Daten dem Architekten zur Verfügung stellt und dieser damit arbeitet, kann in der Ausführungsplanung nur noch mit dieser Güte gearbeitet werden. Es kann auch nur noch diese Güte und ggf. dieses Produkt geliefert werden.
Je weniger Spielraum für die nachgelagerten Stufen besteht, um eigene Beschaffungsvorteile beim Material zu nutzen, um so mehr reduziert sich die Wertschöpfung. Und nicht nur beim Material. Wird BIM-getreu gearbeitet, reduziert sich der Bedarf an und der Wert von genauer Vermaßung. Ebenso ist der Besitz eines Kranladers nicht mehr zwingend notwendig, wenn auch der Baufortschritt exakt protokolliert wird und damit ein beliebiger Anbieter Logistikleistungen „just in time“ zukaufen kann.
Bisher gibt es noch keine integrierte BIM- und E-Commerce-Plattform. Auch in den skandinavischen Ländern, die seit mehr als 10 Jahren Bauvorhaben mit BIM-Prozessen unterlegen, funktioniert BIM vor allem als projektbezogene Datenbank.
Allerdings gibt es inzwischen sog. 5D-Lösungen. Während 3D-Modelle die CAD-Entwürfe um Zusatzinformationen wie Mengen, Ausstattungen, Materialien, Geräte, Personaleinsatz ergänzten, und die 4D-Lösungen den Faktor Zeit im Sinne einer Bauphasen-Planung hinzufügten, entsteht mit dem fünften D die Basis für die Baudurchführung. Dafür werden die Kosten ergänzt – für Material und Leistungen, einschließlich Ausschreibung, Auftrag und Abwicklung.
Der deutsche Anbieter RIB Group AG hat zwischen 2015 und 2018 versucht, eine erste solche Handelsplattform mit seinen verschiedenen BIM Software-Lösungen zu verknüpfen. Diese sollte aus den verschiedenen BIM-Anwendungen heraus Ausschreibungen erlauben und die Aufträge in den weiteren BIM-Prozess überführen.
Quelle: RIB Software AG, 2016. Heute ist die Darstellung online nicht mehr zu erreichen.
„Ziel der Zusammenarbeit ist die optimale Nutzung von Big Data in den Planungs-, Bau-, Betriebs-, Wartungs- und Managementprozessen. ... Um neue Lösungen zu entwickeln, die auf der Intelligenz und Big Data der YTWO-Plattform basieren, hat RIB zusammen mit Microsoft eine weltweit führende vertikale Cloud für die Bau- und Immobilienbranche, MTWO, gegründet. MTWO ist eine speziell auf die Bau- und Immobilienbranche zugeschnittene Cloud-Lösung, die optimierte Cloud-Performance für die BIM-Modellierung, optimiertes Datenmanagement von Bauprojekten auf Azure Virtual Machines und die Entwicklung neuer KI-Lösungen zur Unterstützung der Arbeit von Bau- und Immobilienexperten bietet. MTWO wird RIBs Know-how der Bauindustrie mit Microsofts AI-basierten BoT-Lösungen, Azure IoT-Suite und Mixed-Reality-Lösungen mit Microsofts HoloLens integrieren.“
Die RIB Software AG beschreibt die BIM-Wertschöpfungskette in ihrer 5D-Suite „ITWO“ so:
Der 2015 skizzierte Marktplatz XTWO findet sich heute nicht mehr als Projekt oder Produkt der RIB Software AG. Die Frage stellt sich also, wie die Bauplattform über Schnittstellen mit dritten Transaktionsplattformen interagieren soll. Das wird um so wichtiger, als die „Binnensicht“ der Plattform durch die Verzahnung mit der DBD-BIM standardisierte Baudaten nach DIN bzw. VDI zugrunde legt und Kalkulationen aufgrund der dort hinterlegten regionalen Baupreise erstellt. Das zeigt, wie gering der Spielraum für Preisgestaltungen nur noch ist.
Deutlich wird auch, dass die Markeintrittskosten für einen branchenfremden Anbieter sehr hoch sind. Ein eigener Marktplatz innerhalb einer cloudbasierten BIM-Plattform hingegen würde die Bauleistungen, das Material, aber auch die Logistik, ggf. Strom und Wasser und sogar die Arbeit auf dem Bau selbst isoliert innerhalb der Projekte „handelbar“ machen. Da in der Baubranche die Preise ohnehin von Baustelle zu Baustelle auch zwischen den gleichen Bauherren und Lieferanten variieren, ist die Branche eigentlich reif für so ein Plattform-Geschäft.
Diejenigen würden die Nase vorn haben, die besonders gut auf Angebote im BIM-Prozess ausgerichtet sind. Das aber sind in der traditionellen Baubranche noch die wenigsten. Offene Schnittstellen erlauben demgegenüber den Zutritt von Dritten. Es besteht erhebliches disruptives Potential.
Ein entsprechendes Beispiel ist die Stuttgarter bex technologies GmbH. Ihr Geschäftsmodell besteht in der Besorgung von Materialien, die auf Baustellen fehlen - und das gemäß und innerhalb der bestehenden Beziehungen zwischen Handwerker und Baustoffhändler. Dies wird auf Grundlage von digitalen Prozessen einfacher, weil bis hin zur benötigten Produktqualität und ggf. der Güte sowie der vereinbarten Konditionen alle Informationen mit übergeben werden können. Ob der isolierte Prozess der Besorgung im Geschäft und Auslieferung auf die Baustelle sich rechnen lässt, hängt wesentlich davon ab, ob die in Rechnung gestellten Beträge - die von "bexpress" nach Gewicht gestaffelt sind und bei knapp 20 Euro für 1 kg beginnen - durch die vermiedene Unterbrechnung der Bauleistung überkompensiert werden können.
Potentiell kann aber die Baustellen-Logistik als eine bislang im Leistungsbündel der Baustoffhändler enthaltene Leistung so für die Preisbildung und Kundenbeziehung entwertet werden. Sie ließe sich auf BIM-Plattformen dazu buchen.
Für den Betreiber der Plattform entstehen bei einem globalen Bauvolumen von 14 Billion US-Dollar aus der Vermittlung der Transaktionsbeziehungen und aus den kumulierten Projektdaten Informationsmengen, aus denen sich neue Mehrwertleistungen generieren lassen. Die könnten den zunächst im Augenmerk der Bauträger und Investoren stehenden Effizienzgewinn noch deutlich übersteigen.
Autor und Unternehmen
Martin Groß-Albenhausen ist als Stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim E-Commerce-Verband bevh für Marketing, Innovation, Ausbildung und Business-to-Business-Anbieter verantwortlich. Er ist Dozent an der Digital Business School Jena mit Schwerpunkt "Online-Strategie" und berät im bevh Interaktive Händler in Fragen von E-Commerce- und Multichannel-Strategie, Positionierung und Geschäftsmodell-Entwicklung.