Cloud-Technologie und Künstliche Intelligenz als Basis neuer Handelsprozesse
Erfolg in künftigen Handelsszenarien beruht auf der Fähigkeit, komplexe Beziehungen in großen Datenmengen aufzudecken und daraus kundenbezogene, bidirektionale Prozesse zu entwickeln. Solche Lösungen kann schon ein Großkonzern kaum eigenständig aubauen, geschweige denn der mittelständische Unternehmer, ob Hersteller oder Händler. Selbst da, wo einzelne Rechenoperationen nur kurzzeitig auf aggregierten Daten laufen, ist die Menge an notwendigen Auswertungen so vielfältig, dass regelmäßig eine hohe Rechenleistung abgerufen werden muss. Auf eigenen Servern ist diese Last nicht sinnvoll abzubilden.
Daher hat sich bei großen Unternehmen der Einsatz von Cloud-Technologien durchgesetzt. Gerade der klassische Versandhandel, der seit je eine große Zahl an Daten verarbeitet, hat lange Zeit gezögert, seine IT-Prozesse nicht mehr "on premise" - also auf eigenen Servern, ggf. in einem eigenen Rechenzentrum, auszuführen. Erste Ansätze, die marktgängige Versandhandelssoftware als "ASP"-Variante (application service providing) zu betreiben, scheiterten Anfang der 2000er Jahre. Auch Shopsysteme wurden in der Regel lizenziert und selbst betrieben.
Nicht zuletzt die Geschwindigkeit, mit der Technologie sich entwickelte und dadurch Datenmengen wuchsen, machte häufige Anpassungen und Releasewechsel notwendig. Mit der wachsenden Bandbreite und Verlässlichkeit von Datenübertragungen, und nicht zuletzt mit der Durchsetzung der "API-Ökonomie", konnten sich Anwendungen durchsetzen, die eine Vielzahl von IT-Prozessen "as a Service" anboten. Das reicht heute von der Bereitstellung von Servern und Datenspeichern (Infrastructure as a Service, IaaS) über Entwicklungsumgebungen, um mit online verfügbaren Tools eigene Anwendungen rascher entwickeln zu können (Platform as a Service, PaaS) bis zu komplett auf externer Infrastruktur betriebener Software (SaaS).
Der Vorteil solcher Cloud-Anwendungen gerade für den kleinen und mittelständischen Handel liegt auf der Hand. Nur wenn permanente, agile Verbesserungen an Software vorgenommen und ihm sofort zur Verfügung gestellt werden, kann er überhaupt auf Veränderungen der Kundenerwartungen reagieren.
Aber gerade auch innovative E-Commerce-Unternehmen nutzen heute frühzeitig Plattformen, um bei rasch anwachsenden Nutzerzahlen und Seitenzugriffen auch vergleichsweise wenig aufwändige Operationen ohne Latenz skalieren zu können. Derzeit setzen die meisten Unternehmen die Angebote von Amazon (AWS) oder Microsoft (Azure) ein.
Cloud, Plattformen, KI und Neuer Handel
Im Neuen Handel finden sich heute schon zahlreiche KI-unterstützte Angebote, Services und Prozesse. Maschinelles Lernen liegt zahlreichen Empfehlungs-Algorithmen zugrunde. Berechnungen für Wartungsintervalle und daraus folgende Service-Angebote und Service Level-Vereinbarungen (SLA) sind im B2B heute vielfach im Einsatz. Übersetzungen und redaktionelle Texte entstehen nicht mehr durch Menschen, und der bekannte Turing-Test - ein Mensch erkennt nicht mehr, ob er mit einem Chat-Bot oder einer lebendigen Person spricht - fällt für Service-Anfragen nicht mehr zugunsten der Menschen aus.
Alles das sind Beispiele für sog. "schwache künstliche Intelligenz". Die Anwendungen sind fokussiert, arbeiten mit tiefen, aber begrenzten Datensätzen und "erfinden" ihre Antworten in einem begrenzten Spektrum. Eine starke künstliche Intelligenz, die auch bei Unsicherheit entscheidungsfähig bleibt, ist noch nicht erreicht - auch wenn die Forschung dahin auf dem Weg ist.
Systematisiert zeigen sich folgende Anwendungsszenarien für cloudbasierte KI im Neuen Handel:
Virtuelle Agenten: Sie beantworten typische Support-Anfragen. Dazu ziehen sie potentiell deutlich mehr Daten heran, als ein Agent im Customer Service während des Anrufs in Echtzeit verarbeiten könnte. Allerdings sind ihr Entscheidungsspielraum und ihr Kommunikationsvermögen noch begrenzt.
Entscheidungsunterstützung: In diesem Feld finden sich aktuell die meisten KI-unterstützten Anwendungen. Sie werden beispielsweise in der Bonitätsprüfung eingesetzt, bei der Produktempfehlung (recommendation engine) im E-Commerce oder bei Dispositionsentscheidungen. Gerade hierin gründen sich positive volkswirtschaftliche Effekte von Plattformen, die tatsächlichen Bedarf an jedem Ort in die Planung der Handelprozesskette ab Hersteller einbeziehen.
Smarte Produkte: Vom Thermostaten über den Lichtschalter bis zum Fahrstuhl reichen die heute schon verfügbaren verbrauchernahen Anwendungen des "Internet of Things". Dass Licht eingeschaltet wird, wenn ein Smartphone sich in ein WLAN einbucht, ist keine per se intelligente Leistung. Spannend wird es erst, wenn aus der Vernetzung heraus das System lernt, dass gewöhnlich nach einer Handlung eine zweite erfolgt und dafür von sich aus eine vorbereitende Aktivität auslöst.
In Amerika und Europa zählen IBM und Microsoft als klassische "Bluechips" sowie Google und Amazon als Digitale Pioniere zu den einflussreichsten Anbietern. Sie alle haben für die verschiedenen genannten Szenarien Lösungen entwickelt. Alle bieten beispielsweise IoT-Plattformen an, auf denen Drittanbieter Dienste entwickeln und bereitstellen können. Machine Learning übernimmt bei Amazon "Sagemaker", bei IBM der "Watson Assistant". Bei Microsoft und Google sind es respektive der "Azure Bot Service" bzw. "Cloud AutoML". KI-Anwendungen aller Plattformen erstrecken sich heute auf Bilderkennung (wichtig etwa in der Produktdaten-Anlage für den E-Commerce), Textanalyse oder die Verarbeitung natürlicher Sprache.
Vertikalisierung der Künstlichen Intelligenz
In Asien hat Alibaba mit den Alibaba Cloud Services und der KI-Plattform "ET Brain" ein eigenes, vergleichbares und rasch wachsendes Angebot geschaffen. ET steht für Extreme Technology.
Quelle: https://www.alibabacloud.com/et/industrial, abgerufen am 19.1.2020
Anders als AWS oder Azure ist das ET Brain nicht nur eine umfassende Plattform, sondern bereits in „Verticals“ geschnitten. Es lohnt sich, darauf einen genaueren Blick zu werfen.
Der Slogan „Mission beyond Cloud“ - genutzt von Xuan Jin, Lead Solutions Architect und Senior Evangelist von Alibaba Cloud Services - beschreibt den größeren Nutzen der KI-Plattform exakt. Bislang entwickelt sind hier das „ET Industrial Brain“, „ET City Brain“, „ET Medical Brain“ und „ET Environmental Brain“. Sie kombinieren jeweils die Rechenleistung und zentralen KI-Anwendungen mit branchenspezfischen Angeboten.
Obige Grafik zeigt exemplarisch die "DNA" hinter dem Industrial Brain. Das "Gehirn" verarbeitet zahlreiche Umweltdaten, Informationen aus der Fertigung bzw. dem Shop Floor oder der Supply Chain, Wissenschaftsdaten genau so wie zum regulatorischen Rahmen. Diese Daten werden aus den verschiedensten Sektoren wie Chemie, Industrie, Bodenschätze, Logistik oder Technologie gesammelt.
Die Vertical-Brains organisieren wiederum Daten und Dienste so, dass konkrete Anwendungen für den Sektor und die spezifischen Nutzenszenarien entstehen. Das ET City Brain beispielsweise verspricht einerseits allgemeinen administrativen Nutzen, etwa in der Verkehrsfluss-Steuerung. Die KI hat Zugriff auf Informationen etwa von Überwachungskameras, Polizei, ÖPNV, und kann so die Zeit deutlich verkürzen, die ein Krankenwagen zum Unfallort oder von dort ins Krankenhaus benötigt.
Durch den vertikalen Ausbau, zuletzt beispielsweise das ET Aviation Brain und das ET Agricultural Brain, gewinnt Alibaba andererseits überlegene Informations- und Operationsprozesse nicht nur für jeweils andere Verticals, sondern auch für sein "Alibaba Operating System".
Quelle: https://www.alibabacloud.com/et/city , abgerufen am 12.1.2020
Alibabas Zustellplatform ele.me und das O2O Supermarkt-Projekt HEMA profitieren direkt von den Erkenntnissen etwa aus dem ET City Brain oder auch dem ET Agricultural Brain, indem die Steuerung der Gemüse-Lieferungen, die Zubereitungszeit frischer Speisen, die Verfügbarkeit von Zustellern, die zu erwartende Verkehrsituation und korrespondierende Zustellzeit parallel bzw. in der Cloud so berechnet werden, dass eine Zustellung innerhalb von 30 Minuten im Radius von 3km um den Store garantiert wird.
Gesellschaftlicher und ökonomischer Nutzen gehen Hand in Hand und werden von staatlicher Seite unterstützt. Der volkswirtschaftliche Nutzen steht außer Frage, denn China wird die ökonomischen Wachstumsziele nur durch den Einsatz von derart straff organisierter KI realiseren können, wenn zugleich ökologische und gesellschaftliche Effekte durch den Einsatz digitaler Systeme gesteuert werden.
Von der Cloud-Plattform zur KI-basierten Digital Commerce Architektur
Die o.g. Beispiele zeigen, dass Neuer Handel ohne Teilnahme an Plattformen nicht möglich ist. Der einzelne Händler wie das gesamte Netzwerk optimieren sich auf Grundlage der Analyse großer Datenmengen (Big Data), die aus den verschiedenen einzelnen Systemen zusammenfließen (Data Lakes). Die Fähigkeit, die eigene Leistung über die konsequente Plattform-Orientierung zu skalieren, ist für die Bewertung der Zukunftsfähigkeit eines Händlers heute elementar und wird von Investoren regelmäßig zur Beurteilung einer möglichen Beteiligung herangezogen.
Quelle: Intershop in Anlehnung an Gartner, Vortrag im bevh am 15.10. 2019
In der obigen Grafik hat die Firma Intershop dargestellt, wie KI-basierter Neuer Handel aufgebaut ist. Verbraucher und vernetzte Geräte, Marktplätze mit ihren Dienstleistern und die Handels-IT treten dabei sowohl als Nachfragende wie als Lieferanten von Daten auf.
Zweifellos liegen diese Daten heute und vermutlich auch in Zukunft nicht in einem einzigen Datenpool vor. Es gibt viele Plattformen, die alle über APIs verbunden werden. Dennoch liegt eine der Schlüsselaufgaben darin, eine Vervielfältigung der Datenmenge zu vermeiden. Wenn jedesmal Daten übergeben werden müssen, erzeugt das Aufwand, verringert die Konsistenz und verzögert die Durchführung. Virtualisierung von Daten bietet hier die Lösung, ist aber nur möglich, wenn man Echtzeitzugriffe aus der Plattform auf die eigenen Datenbanken und von Plattform zu Plattform zulässt.
Je weiter entfernt das eigene Unternehmen von den Plattformen mit ihren Diensten gebaut wird, um so weniger können Erkenntnisse künftig für das tägliche Geschäft eingesetzt werden. Umgekehrt - und das zeigen die in China entwickelten integrierten Modelle - kann der kleine Händler sein Geschäft verbessern, je exakter Daten auch aufgrund seiner begrenzten Informationen auf der Plattform analysiert und als Entscheidungshilfen (Sortimentierung, Disposition, etc.) zurückgegeben werden.
(K)eine europäische KI-Strategie für den Handel
Im Februar 2020 hat die EU-Kommission sowohl ihre EU-Datenstrategie als auch ein Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz vorgelegt. Wenig später hat sie am 10. März 2020 ihre Industriestrategie vorgestellt, die eng auf diese beiden Dokumente Bezug nimmt.
Gerade dem Handel wird die EU auf Grundlage dieser Papiere nichts bieten können - und wollen. E-Commerce findet mit keinem Wort statt. Im Weißbuch heißt es explizit auf Seite 7:
"Die Zentren und Netzwerke sollten sich auf Sektoren konzentrieren, in denen Europa das Zeug zum globalen Spitzenreiter hat, wie z.B. Industrie, Gesundheitswesen, Verkehr, Finanzwesen, Agrar- und Lebensmittelwertschöpfungsketten, Energie/Umwelt, Forstwirtschaft, Erdbeobachtung und Raumfahrt. In all diesen Bereichen ist der Wettlauf um die Führungsposition in der Welt in vollem Gange, und Europa verfügt über beträchtliches Potenzial, Know-how und Fachwissen."
Die von der EU-Kommission entwickelte Datenstrategie versteht sich vergleichbar als "industriepolitische Strategie für die datenagile Wirtschaft". Die in diesem Kontext definierten "sektorspezifischen Datenräume" entsprechen weitgehend den von der Alibaba-Cloud schon realisierten "ET-Brains" einerseits und dem deutschen Projekt Gaia-X andererseits. Letzteres kommt nicht von ungefähr, da Gaia-X exemplarisch als bevorzugt förderungswürdige Initiative eines EU-Mitgliedsstaates genannt wird.
Insgesamt erhofft die EU bis 2027 einen Nutzungwert industrieller Daten von 1,5 Billionen Euro zu erschließen. Für die Realisierung ihrer Strategie veranschlagt die Kommission einen aus öffentlichen und privaten Mitteln zu erbringenden Etat von insgesamt 4-6 Mrd. Euro bis 2027. Diese Förderung soll dann Folgeinvestitionen von Nutzern und Entwicklern innerhalb der EU-Datenräume nach sich ziehen. Das resultierende "High-Impact-Projekt" umfasst Infrastrukturen, Instrumente, Architekturen und Governance-Mechanismen für die gemeinsame Nutzung von Daten. Es entspricht damit der Logik von AWS oder der Alibabacloud.
Ob die EU als IT-Unternehmer oder IT-Investor hier eine wettbewerbsfähige Strategie vorlegt, hängt sehr von der Organisation und Umsetzung ab. Denn mindestens so entscheidend wie die Höhe der Investition ist die Stringenz der Umsetzung, die in einem komplexen Staatenbund eine enorme Herausforderung darstellt. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 allein hat Alibaba 5 Mrd. Dollar in Forschung und Entwicklung investiert. Microsoft, Alphabet und Intel geben für F&E jährlich jeweils 11 Mrd. Dollar aus. Und Amazon allein hat im vergangenen Jahr ein Budget von fast 36 Mrd. Dollar für solche Zwecke aufgewendet.
In der Datenstrategie wie im EU-Weißbuch zur künstlichen Intelligenz fällt auf, dass zwar die Vertrauenswürdigkeit als besonderer Wettbewerbsvorteil einer EU-Cloud statuiert wird. Diese Vertrauenswürdigkeit erlaubt dennoch nicht die Verarbeitung personenbezogener Daten. Hier konzentriert sich die EU hauptsächlich auf nicht-personenbezogene bzw. öffentliche Daten. Allerdings spricht die Kommission auch von einem "Binnenmarkt für Daten" jeglicher Art - auch personenbezogener - und ergänzt diese um die "nahe unbegrenzte Menge industrieller Daten". Fehlende Interoperabilität und mangelnde Daten-Qualität werden im Strategiepapier als Hürden explizit benannt. Dem soll durch IKT-Normung etwa im Rahmen von IoT-Anwendungen oder auch Building Information Modeling (BIM) begegnet werden.
Ziel der Datenstrategie sind EU-weite gemeinsame interoperable Datenräume. Diese umfassen Werkzeuge und Plattformen für gemeinsame Datennutzung, Rahmen für Daten-Governance, sektorspezifische und sektorübergreifende Daten von hoher Verfügbarkeit, Qualität und Interoperabilität.
Im Hinblick auf den Neuen Handel stellen die vornehmlich industrie-orientierten Datenräume damit gleichwohl eine Chance dar, digitale Wertschöpfungsnetze bis hin zum gewerblichen oder privaten Verbraucher zu knüpfen. Die EU erkennt in ihrer Datenstrategie selbst, dass zu wenig - auch personenbezogene - Daten zur Verfügung stehen, um durch deren Weiterverwendung KI-Anwendungen möglich zu machen. Hier besteht eine offenkundige Inkonsistenz der sehr restriktiven Datenerhebungsmöglichkeiten einerseits und der Datenziele der EU andererseits.
Autor und Unternehmen
Martin Groß-Albenhausen ist als Stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim E-Commerce-Verband bevh für Marketing, Innovation, Ausbildung und Business-to-Business-Anbieter verantwortlich. Er ist Dozent an der Digital Business School Jena mit Schwerpunkt "Online-Strategie" und berät im bevh Interaktive Händler in Fragen von E-Commerce- und Multichannel-Strategie, Positionierung und Geschäftsmodell-Entwicklung.