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Digital-Hügel

Eine Widerrede von Martin Groß-Albenhausen

In der britischen Komödie „Der Engländer, der auf einen Hügel stieg, und von einem Berg herunterkam“ passiert genau das Gegenteil dessen, was der Titel verheißt. Am Anfang wird ein Berg vermessen und festgestellt, dass er diese Bezeichnung nicht verdient. Erst durch künstliches Aufschütten gelingt es, am Ende die nötigen zwei Fuß über das Mindestmaß eines „Mountain“ hinauszuwachsen.

Die Bundesregierung hat in den vergangenen zwei Tagen ihren Digital-Gipfel bestiegen. Als Nachfolgeveranstaltung des Nationalen IT Gipfels hat der Ludwigshafener Konvent einen Schwerpunkt auf der Technologie. Er reiht sich ein in die Abschlussveranstaltungen der Digitalen Agenda der auslaufenden Legislaturperiode.

Entsprechend schwelgt das Abschlussdokument in Machbarkeitsvisionen und bricht die dystopischen Einwände durch Grundforderungen wie „Security by Design“. Wir kennen die Forderung aus der Datenschutz-Diskussion, und hier sind die Probleme einer Umsetzung bereits überdeutlich geworden.

Wie bei so vielen Abschlussveranstaltungen fehlt auch der „Ludwigshafener Erklärung“ die Reflexion der heute geltenden Regularien und der darüber hinaus diskutierten möglichen Neuordnungen. Die gleichen Personen, die in Ludwigshafen Digitalisierung als conditio sine qua non für künftige Steuereinnahmen hochhalten („Deutschland ist Industrie 4.0-Land Nr. 1. Diese Position wollen wir halten und ausbauen.“), beabsichtigen zu Hause, die sich entfaltenden Triebe überall da zu kappen, wo sie das Mauerwerk des Gesellschaftsgebäudes aufbrechen könnten.

So hat der Digital-Gipfel 2017 ausgerechnet „e-Health“ als Schwerpunkt-Thema gewählt. Groß ist die Hoffnung:

„Der begonnene Aufbau der sicheren Infrastruktur ermöglicht neue digitale Anwendungen im Gesundheitswesen und die Erschließung neuer versorgungs-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Potenziale, in deren Erschließung wir auch verstärkt Start-ups mit ihren neuen Ideen einbeziehen sollten.“

Beschlossen und verkündet? Auf der Bühne stehen u.a. Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Erstere hat noch vergangene Woche auf der Abschlussveranstaltung der ministeriumseigenen „Dialogplattform Einzelhandel“ ein persönliches vehementes Bekenntnis zum stationären Handel abgegeben. Letzterer will den Onlinehandel mit Medikamenten, Eckstein neuer versorgungspolitischer Potentiale, per Gesetz verbieten lassen.

Wer sich wirklich mit durchgängigen digitalen Geschäftsmodellen beschäftigt, erkennt die Widersprüche der politischen Willensbekundungen und der regulatorischen Praxis. Und der Disruption, die sich einfach nicht darum schert.

Disruption, dieses böse Wort, dem das Bundeswirtschaftsministerium im Weißbuch „Digitale Plattformen“ seine Ziele für eine Digitalisierung „made in Europe“ entgegenschleudert.

„Transformation statt Disruption: Deutschland und Europa brauchen einen politisch begleiteten und moderierten Prozess des digitalen Wandels. Es darf keine ungesteuerte Entwicklung der Digitalisierung geben. Wenn wir die Transformation erfolgreich gestalten wollen, müssen wir die Risikobereitschaft der Unternehmen und der Menschen stärken und gleichzeitig Vertrauen in die digitale Zukunft der Volkswirtschaften in Deutschland und Europa schaffen. Dazu bedarf es klarer Regeln."

Wer einen Gipfel besteigt, sollte mindestens verstanden haben, dass der majestätische glatte Grat aus einer Folge von Scharten, Brüchen, Klippen und Kanten besteht. Er sollte – um eine Forderung von Alain Veuve aufzugreifen – statt von „Digitaler Transformation“ von „Perpetual Disruption“ sprechen.

Aber den Politikern fehlt der Mut, diese Wahrheit auszusprechen: Es wird kein Spaziergang. Es wird Verlierer der Digitalisierung geben. Wir werden nicht jedes Geschäftsmodell retten können. Transformation reicht nicht. Die Disruption kann man nicht wegmoderieren, nicht wegregulieren, nicht wegregieren.

Immerhin spricht die „Ludwigshafener Erklärung“ auch von der Notwendigkeit, Digitalisierung schon in die Grundschulen zu bringen. Hier lässt die Politik den Worten bereits hastig Taten folgen und unterstützt mit dem Calliope Mini ein – ja, was denn eigentlich? Ein Stück Technik, mit dem Drittklässler Grundzüge des "Codens" lernen sollen. Sieht ein bisschen aus wie ein Raspberry Pi, kann aber weniger. Und wird vermutlich Kinder, die in der Vorschule schon mit Smart Devices virtuos umgehen, in etwa so lange faszinieren wie meine Kinder mein alter FischerTechnik-Baukasten. (Väter wissen, wovon ich rede.)

Nicht falsch verstehen: Ich hätte sehr begrüßt, wenn meine Kinder vor fünf Jahren einen Calliope Mini in der Schule kennengelernt hätten. Aber ganz ehrlich: Mein Sohn programmiert heute auch ohne solche Unterstützung mit nicht mal 16 Jahren Websites und geht mit Software um, die ich nicht mehr verstehe. Nicht jeder muss programmieren lernen, um erfolgreich digitale Werte und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Ich stimme Sascha Lobo zu, dass programmieren lernen nicht gleichzusetzen ist mit dem Erwerb digitaler Kompetenz. Deswegen verlangt und lehrt unser neuer Beruf "E-Commerce-Kaufleute" auch keine Programmier-Kenntnisse.

Überhaupt: warum sollte man Schulkinder nicht gleich an Technik schulen, die ihre nächsten zehn Jahre umwälzen wird?  Viele ideologisch geprägte Diskussionen an den Schulen über Nutzen und Nachteil von digitalen Innovationen (und der unweigerlich resultierenden Disruption) würden einem echten Verständnis für Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken weichen.

Politiker, die einen Gipfel bestiegen und feststellten, dass die Berge erst dahinter anfingen: Wenn man die Perspektive der dokumentierten Erkenntnisse, niedergeschrieben in der „Ludwigshafener Erklärung“, als Messlatte nimmt, war dieser Gipfel eine Bodenwelle.

Sicher: bei entsprechender Geschwindigkeit kann man auch darüber abheben und einen Höhenflug starten.

Oder bruchlanden.