Weissbuch "Digitalisierung und Neuer Handel"

www.weissbuch-digitalisierung.de

Multichannel, vom E-Commerce aus gedacht

Die klassische Wertschöpfung im Handel unterstellt zweierlei: eine ausschließlich oder vorzugsweise durch den Handel überbrückbare zeitlich-räumliche Trennung zwischen Produkthersteller und Verbraucher, sowie eine Kaufsituation, in der Ware, Information und Transaktion (weitgehend) zusammenfallen.

Die digitale Wertschöpfung im Handel unterstellt, dass räumliche und zeitliche Distanz für die Information und Transaktion unerheblich ist, darum statt Beständen (Ware/Service/Personal) Prozesse definiert und kontrolliert, aber nicht mehr selbst „besessen“ oder erbracht werden müssen. Der Handel folgt damit der digitalen Disruption in der Telekommunikation, bei der die Synchronizität des z.B. telefonischen Gesprächs durch asynchrone Situationen (Chat) abgelöst wurde.

Multi- oder Omnichannel unterstellt, dass ein Händler die Logik des Onlinehandels in seinem bestehenden Geschäft erfolgreich implementieren kann. Tatsächlich kann er Waren heute ohne großen Aufwand auf Marktplätzen oder im eigenen Onlineshop präsentieren. Häufig wird der "Laden" als Erfolgsstrategie für Onlinehändler empfohlen und "vice versa" E-Commerce als Disziplin im Einzelhandel interpretiert.

Doch eine Beschreibung von Einzelhandel und E-Commerce mit der Technik des Business Model Canvas legt die Vermutung nahe, dass hier zwei gänzlich verschiedene Geschäftsmodelle existieren:

Quelle: eigene Grafik

Der Business Canvas des klassischen Handels zeigt, dass dieser stark von den Begrenzungen der Fläche und des Personals abhängig ist. Die Nähe - physisch wie emotional - ist andererseits das besondere Wertversprechen, an das sich eine Vielzahl valider Nutzenvorteilsargumente für den Endkunden knüpfen.

Quelle: eigene Grafik

Der Neue Handel kennt die Begrenzung nicht. Das verlangt von ihm in der Folge eine ganz andere Sortimentspolitik, eine andere Preispolitik, eine andere IT-Struktur, anderes Personal. Mit anderen Worten: E-Commerce funktioniert so anders, dass beide Geschäfte schwer nebeneinander zu führen sind.

Sind also alle Multi-, Cross- und Omnichannel-Phantasien haltlos, der klassische Handel tatsächlich unwissentlich tot, nicht mehr zu retten? 

Nicht, wenn er seinen Ausgangspunkt umkehrt: wenn er nicht E-Commerce vor der Folie seiner Handelsstufe und alten Wertschöpfung betrachtet, sondern wenn er seine (lokale, stationäre, außendienstgetriebene) Position zwischen Hersteller und Kunde vor der Folie des E-Commerce interpretiert. Wenn er im Selbstverständnis zum Intermediär wird. 

Lokale Nähe genügt zwar als Wert nicht mehr, um Sortimentsgrenzen und Preisaufschläge jederzeit zu rechtfertigen. Aber „Nähe“ hat in der Prozessdenke der digitalen Intermediäre weiterhin eine hohe Relevanz. Das gilt für die Optimierung der Suchmaschinen-Performance, und es zeigt sich an anderer Stelle daran, dass Amazon derzeit eine eigene Zustellstruktur z.B. in Form von Paketboxen („Locker“) aufbaut, Läden eröffnet und auch in eigene Flotten investiert. Denn Amazon denkt hier nicht statisch, sondern prozessual; und es geht nicht um eine Sortimentsbildung über Raum und Zeit, sondern um die Organisation des Warenübergangs und der Informationskette. Es ist weniger Intralogistik (Lagerbewirtschaftung) als Handelsdistribution.

Ein Händler, der sich als Intermediär versteht, sieht seinen Laden als digitales Asset, das im E-Commerce optimiert wird. Durch maximale Sichtbarkeit erzielt er wieder Relevanz für die Lieferanten und er kann auch in Richtung digitaler Wettbewerber Coopetition-Modelle entwickeln. Dies ist im Offline-Handel in der Entwicklung der Warenhäuser zu Shop-in-Shop-Betrieben ähnlich erkennbar, wobei hier lediglich die Aggregationsfunktion genutzt und weniger produktive Vorgänge den "Mietern" überlassen werden. Wirtschaftlich ändern sich dadurch auf dem obigen Canvas die Kosten- und Erlössituation.

Genauso ist der Besitz eines Kranladers, um 10 Sack Reis in den zweiten Stock zu heben, durchaus eine Mehrwertleistung auch von Intermediären. Nur eben nicht als hinreichender Wert an sich, sondern als Teil eines maximal digitalisierten Prozesses. Würde Amazon Business Kranlader kaufen? Ein Onlinehändler würde eher einen Logistik-Dienstleister wie Liefery oder Metapack als "Service" in seine digitale Infrastruktur einbinden. Der wiederum bildet die regional erreichbaren Kranlader über eine Plattform ab, so dass der Händler komplexe Lieferungen in seinem Shop zeitlich flexibel und nach Opportunitätskosten statt Vollkosten anbieten kann. Fakt ist, dass die IT-seitige, digitale Vernetzung eine Disposition über viel mehr Transportmittel (qua Dienstleistung) ermöglicht und damit gegenüber dem Kunden eine bessere Lieferleistung.

Die Logik der digitalen Wertschöpfung leitet sich dabei aus der Plattform-Logik ab: In einem Netzwerk steigt mein Wert als Mitglied mit der Anzahl meiner eigenen Verbindungen und der Zahl der Verbindungen jedes einzelnen der mit mir verbundenen Kontakte. In so einer Netzwerk-Logik werden vormals isolierte Prozesse um so wertvoller, je besser sie sich in beliebige andere Prozesse integrieren lassen. Geschlossene Systeme mit wenigen Schnittstellen skalieren schlecht.

Es ist darum ein verbreitetes Missverständnis, dass ein E-Commerce-Unternehmen, das eine Filiale eröffnet, ein Multichannel-Einzelhändler und damit Teil des Einzelhandels-Wertschöpfungsmodells würde. Mag sein, dass die Filiale an sich in Teilen einem traditionellen Wertschöpfungsmodell unterliegt, im Gesamtkonstrukt ist sie aber voll in führende digitale E-Commerce-Prozesse einbezogen. Die Filiale dient dazu, weitere Vernetzungen zu ermöglichen, ist aber nie als Wert an sich gedacht.

Die Filiale ist auch nicht konstitutiv für das Geschäftsmodell, das auf direkte Belieferung ausgerichtet ist – erkennbar z.B. durch Kommissionierung aus einem Zentrallager, Transaktion vor Warenübergang etc. Die Filiale kann in einem gegebenen Fall den besseren digitalen Prozess ermöglichen (Produkt ist vor Ort, Kunde hat dringenden Bedarf, Bonität oder Kundenstatus verlangen Vorauskasse oder Nachnahme). Sie kann eigene Produkte besser inszenieren und erlaubt damit eine additive informatorische Wertschöpfung, ist dann aber eher Showroom als Einzelhandel. Und so weiter.

Man kann dies bis auf die Arbeitsplatzdefinition herunterbrechen. Wenn ein Mitarbeiter im Lager überwiegend klassische Filialbelieferung vollzieht, gehört er dem klassischen Modell der Handelslogistik an. Wenn er überwiegend Endkunden-orientierte Prozesse vollzieht, gehört er dem E-Commerce-Modell an. Ein Mitarbeiter auf der Fläche, der überwiegend aus dem Lager heraus Pakete packt, weil er Teil der „Same Day Delivery“-Kette ist, folgt dem E-Commerce-Prinzip. Wer in einem Click&Collect-Modell Ware nur aushändigt und im Kern die Warenprozesse der Filiale sowie die Beratung gewährleistet, bleibt Einzelhändler. Ein Unternehmen, zwei Modelle.

Dass Multichannel nur ein Schlagwort, aber kein Königsweg ist, zeigt sich an der Jahr um Jahr steigenden Zahl der Insolvenzen von Ikonen des Stationären Handels. Diese erzielen durch den neuen Vertriebskanal nicht genügend Wachstum, um die Kosten des Betriebs zweier inkompatibler Geschäftsmodelle zu finanzieren. Denn ohne eine "unique selling proposition", die im digitalen Zeitalter Bestand hat und im E-Commerce exzellent vorgetragen wird, verliert eine stationäre Marke dauerhaft an Sichtbarkeit.

Modegeschäfte sind der Frequenzbringer für den innenstädtischen Handel. Doch diese Kategorie leidet seit vielen Jahren an Umsatzrückgang, während der Onlinehandel mit Mode rasant wächst.

Das Versprechen von Multichannel-Handel wäre, dass ein weiterer Kanal die Rückgänge kompensieren könnte. Und es ist heute scheinbar keine hohe Kunst mehr, einen Onlineshop neuester Technologie "as a Service" zu nutzen und Betreiben.

Dennoch sinkt die Relevanz der Onlineshops stationärer Händler im Fashion-Segment kontinuierlich, wie aus der Marktforschung des bevh hervorgeht.

Quelle: eigene Grafik

Wie aber könnte ein Fashion-Händler, der kein "uniques" Sortiment anbieten kann, überhaupt online wettbewerbsfähig bleiben? Durch digital vermittelbare Leistungen, nach denen Nutzer suchen und die für ihre Kaufentscheidung relevant sein könnten.

Beispiel "Schneiderei": Keywords rund um das Thema Maßschneiderung bzw. Änderungen gibt es genug, um hier eine Suchwort-Strategie aufzubauen. Aber das wird nicht genügen, weil es für viele Nutzer heute gelernte Praxis ist, auf großen Plattformen zu bestellen und dann zum Schneider des Vertrauens zu gehen. Dennoch lassen sich einige digitale Leistungen definieren, die Umsatz erhalten.

  • Wo der lokale Modehändler das Umnähen als Mehrwertleistung definiert, würde der digitale Intermediär einen Prozess bauen, um im Rahmen der Bestellung bei dem vom Kunden aus betrachtet nächstgelegenen Schneider die Vermaßung und Anpassung anbieten zu können – und zwar mit Eingabe von Maßtermin und Fertigstellungs-Deadline. An solchen Diensten kann ein Modehaus teilnehmen.
  • Umgekehrt kann ein Multichannel-Einzelhändler abseits des Onlinehandels eine eigene digitale Wertschöpfung entwickeln, in Form einer Rückwärtsintegration in E-Commerce-Modelle. Bleiben wir im Beispiel Mode. Ein lokaler Händler könnte die Entwertung der lokalen Präsenz mit einem starken digitalen Angebot konterkarieren: Statt Hausschneider werden Schneideraufträge online an verschiedene über eine IT-Plattform angeschlossene Vertragsschneider vergeben, so dass auch taggleich umgenäht werden kann. Ebenso kann er aus der Filiale heraus das o.g. Logistiknetzwerk ansteuern, um den Lieferservice für den Kunden zu buchen.
  • Und wenn er schon dabei ist, kann er sein Geschäft auf Mehrwert-Plattformen einbinden.  Zalando beispielsweise hat sich zu einer Plattform entwickelt, die bei vollständiger Produkthoheit den lokalen Handel einbindet. Der Händler braucht keinen eigenen "E-Commerce-Stack", um Aufträge aus der Plattform zu übernehmen. Er wird im Hinblick auf das Fulfillment Wertschöpfungspartner für Zalando, weil es effizienter und ökologischer ist, Daten reisen zu lassen als Pakete.
    Der Mehrwert für Zalando ist die höhere Verfügbarkeit und schnellere Lieferung bei gleichzeitiger Entlastung der eigenen Logistik. Mehrwert für den Partner-Händler ist die Übernahme eines Auftrags, den er sonst vermutlich nicht vom Verbraucher selbst erhalten hätte - hier kann und muss er in seiner Kalkulation die eigenen Kosten für Werbung und Verkauf abziehen, da er stattdessen Zalando den Auftrag "abkauft". Der Mehrwert für den Kunden kann in der schnelleren Lieferung liegen.

Viele der genannten Prozesse ähneln dem, was der Einzel- und Großhandel seit Jahren anbieten. Zugrunde liegen meist aber Kontrakte und einzelne, oft manuelle Prozesse, die nicht aus einem digitalen System angesteuert werden können.

Das bedeutet dennoch: Jeder Händler kann sich intelligent digitalisieren. Aber nicht, indem er einfach einen Onlineshop schaltet oder ein „digitales Schaufenster“ ins Netz stellt. Eine Adresse ist für eine Suchmaschine wertlos, wenn der Nutzer diese nicht im Zusammenhang mit einer Marken- oder Transaktions-Suche angezeigt bekommt, weil keine Informationen über Sortiment und Bestand mitgeliefert werden können. Was hilft schnelles WLAN in Innenstädten und Läden, wenn die Kunden damit lediglich besonders schnell online Preise vergleichen können.

Intelligente Digitalisierung des Handels bedeutet, so am Kerngeschäft zu schrauben, dass mehr als ein zusätzlicher Verkaufskanal entsteht. Die Teilnahme an den neuen Ökosystemen liefert dem Händler potentiell eine Vielzahl an Daten, mit denen er sein eigenes Geschäft erweitern kann. Die Arbeit mit Daten und Prozessen wird damit Kernkompetenz jedes "Neuen Händlers".

Zwischenfazit:

Vom hypothetischen Ende der „Institution Handel“ her kann neue Wertschöpfung als Intermediär entwickelt und die Verkörperungen von Handel, die Tätigkeiten und Leistungen neu erfunden werden. Die digitalen Prozesse auf Plattformen können und werden die klassische B2B2C-Wertschöpfung verkehren in C2B2B2C-Prozesse: Produktion, Information, Transaktion und Distribution werden mit Hilfe digitaler Technologie transformiert.

Martin Groß-Albenhausen ist als Stellvertretender Hauptgeschäftsführer beim E-Commerce-Verband bevh für Marketing, Innovation, Ausbildung und Business-to-Business-Anbieter verantwortlich. Er ist Dozent an der Digital Business School Jena mit Schwerpunkt "Online-Strategie" und berät im bevh Interaktive Händler in Fragen von E-Commerce- und Multichannel-Strategie, Positionierung und Geschäftsmodell-Entwicklung.

Ihr Ansprechpartner

Bild des Stellvertretenden bevh-Hauptgeschäftsführers Martin Groß-Albenhausen

Martin Groß-Albenhausen

Stellvertretender Hauptgeschäftsführer